07.2017 Zu Fuß von München nach Venedig Klaus-Jürgen Rennert
Ich hatte schon einige Jahre den Wunsch, über die Alpen zu wandern, doch erst in diesem Sommer konnte ich mir die nötige Zeit nehmen. Manche wandern diese populäre Route verteilt auf mehrere Jahre und passen sie so ihren zeitlichen oder auch körperlichen Möglichkeiten an. Mein Ziel war, sie in „einem Ritt“ zu absolvieren, um ein möglichst tiefes Erlebnis zu haben. Die Verwendung von Liftanlagen, wie stellenweise im Wanderführer empfohlen, und irgendwelchen Verkehrsmitteln, um eintönige Talstrecken zu vereinfachen, wollte ich für mich von vornherein ausschließen.
Meine Wanderung begann am 5. August. Die ersten zwei Tage ging es entlang der für mich überraschend schönen und wilden Isar, vorbei an Wolfratshauen und Bad Tölz, ehe am dritten Tag hinter Lenggries an der Benediktenwand die ersten Berge zu überwinden waren. Die bisherigen weiten, aber ziemlich flachen Etappen empfand ich als schönen Auftakt. An diesen Tagen begleitete mich meine Frau Karin und wir übernachteten in Gasthäusern.
Im Gebirge gibt es manchmal verschiedene Wegvarianten, die entweder unterschiedliche Schwierigkeiten aufweisen oder auch alternative Hütten zur Übernachtung empfehlen. Ich wollte ab hier alleine wandern, meinem eigenen Tempo folgen und die Länge meiner Tagesetappen selbst wählen. So stand fest, dass ich ein Zelt, Schlafsack und Kochausrüstung mitnehmen musste, um unabhängig von Berghütten zu sein.
Nach Überschreiten aller Gipfel der Benediktenwand, mit Panoramaaussicht auf die Zugspitze im Westen und den Großglockner im Südosten, stieg ich in Richtung Jachenau ab. Nach langen 11 Stunden stellte ich mein Zelt abseits des Weges zum ersten Mal auf. Viele Weitwanderer, von denen ich später täglich bis zu 25 traf, beneideten mich um das Zelt, wenn sie genervt vom vergeblichen Telefonieren wegen der nächsten Hüttenübernachtung waren, sofern sie überhaupt Handyempfang hatten. Den schwereren Rucksack hätten aber die wenigsten von ihnen gern auf ihrem Rücken gehabt. Ich traf persönlich nur eine junge Österreicherin, die auch ein Zelt dabei hatte, allerdings kein Kochzeug.
Ist Zelten überhaupt erlaubt? In Bayern, Tirol und den italienischen Provinzen Südtirol und Venetien ist das unterschiedlich strikt geregelt. Erschwerend kommt das strenge Verbot in Naturschutzgebieten und Nationalparks hinzu. Erlaubt ist immer das alpine Notbiwak, auch mit Zelt, aber das darf nicht wie geplantes Zelten aussehen. Für mich stand also fest, das Zelt weit entfernt von Hütten erst am Abend auf- und zeitig abzubauen, natürlich keine Spuren zu hinterlassen und möglichst vom Weg aus nicht sichtbar zu sein. Eine besondere Schwierigkeit ist in allen Kalkgebirgen, eine geeignete Stelle mit Trinkwasser zu finden. Andernfalls musste der Wasservorrat aus dem Rucksack genügen. Zwölf Mal übernachtete ich in meinem Zelt. Besonders gefiel mir, vom späten Nachmittag bis zum nächsten Vormittag alleine in einem weiten Hochtal zu sein, ungestört Gemsen und Murmeltiere mit ihren Jungen beobachten zu können, aber auch dem Wetter ausgeliefert zu sein. Nur sechs Mal schlief ich in Berghütten. Als besonders unangenehm empfanden ich und viele Andere die Übernachtung im Karwendelhaus mit seinem riesigen, voll belegten Lager unterm Dach. Die übrigen Übernachtungen fanden in Gasthöfen oder Ähnlichem statt, weil die zu durchquerenden Täler keine anderen Möglichkeiten boten.
Vom Karwendelhaus aus ist die Besteigung der Birkkarspitze (2749 m) möglich, des höchsten Gipfels im Karwendel. Bei unsicherem Wetter wagten, am Tag als ich dort war, nur wenige den Aufstieg. Am Gipfelgrat rissen die Wolken auf und ein weiter Blick nach Süden ließ mich bis zum Alpenhauptkamm schauen, den ich in 5 Tagesetappen erreichen konnte. Tatsächlich plante ich aber in den ersten zwei Wochen selten weiter, als bis zum nächsten Tag, um bei einem Abbruch der Wanderung, warum auch immer, nicht zu sehr enttäuscht zu sein. Erst ab der dritten Woche freute ich mich auf die gesamte zweite Weghälfte. Da befand ich mich schon in den südlichen Dolomiten und staunte jeden Tag über ihre Größe und Schönheit. Auch ihre Einsamkeit ist angenehm, wenn man sie mit den zuvor von mir durchwanderten viel besuchten Dolomiten Südtirols vergleicht. Dort war die private Medalgesalm mit Lagern überm Stall, gelegen zwischen Peitlerkofel und Grödner Joch, ein freundliches Quartier gewesen, um einen besonders üblen Schlechtwettertag abzuwarten. 20 München-Venedig-Wanderer waren hier versammelt. Teilweise sahen wir uns nun schon seit zwei Wochen immer mal wieder und es gab genug Zeit, von aufregenden Erlebnissen oder interessanten Lebensläufen zu erzählen. Voller Tatendrang bewältigten nach Wetterbesserung am nächsten Tag einige zwei Tagesetappen, denn der Piz Boe (3152 m) lockte. Ich zeltete vor seiner Besteigung auf einem Hochplateau der Sella an einem winzigen See, den die letzten Niederschläge aufgefüllt hatten. Das ans Zelt gehängte Handtuch war noch vorm Schlafengehen gefroren und zeigte so die einzige Frostnacht auf meiner Wanderung an.
Um die südlichen Dolomiten Richtung Belluno zu verlassen, werden im Rother-Wanderführer zwei Varianten beschrieben: ein Abstieg ins westliche Tal mit anschließender Busfahrt (diese Variante wählen die meisten München-Venedig- Wanderer) oder über den Klettersteig an der Schiara mit 600 Höhenmetern. Schon tagelang hatte ich mir Gedanken über das Risiko gemacht, diesen mir unbekannten Klettersteig mit großem Rucksack alleine abzusteigen, gibt es doch laut Beschreibung auch viele steile Passagen ohne Sicherung. In den bisherigen Wochen gab es schon vier Abschnitte mit leichteren Klettersteigen, die die meisten, so auch ich, ohne Sicherheitsausrüstung begingen. Doch die Schiara sollte deutlich schwieriger sein. Vorsichtshalber hatte ich mir drei Tage zuvor in Alleghe eine Klettersteigausrüstung gekauft, denn den weiten Weg von Bayern bis hierher hätte ich sie auf keinen Fall tragen wollen. (Die in einer Hütte ausleihbaren Klettersteigsets sollen vor einigen Jahren nicht sicher gewesen sein – inzwischen hat sich das anscheinend verbessert, wie ich später erfuhr.) Unter einem überhängenden Felsblock biwakierte ich eineinhalb Wegstunden unterhalb des Einstiegs. So war ich an diesem Tag lange vor allen anderen im Klettersteig und musste zumindest keinen losgetretenen Steinschlag fürchten. Schon mittags erreichte ich sicher die Hütte am Südfuß des Berges und wartete bis zum späten Nachmittag zufrieden auf andere mir bekannte Wanderer, von denen ich wusste, dass sie auch diesen Abstieg wählen wollten. Ein ab Mittag vorhergesagtes Gewitter kam zum Glück erst abends.
Nun lagen bis Venedig nur noch 6 Tagesetappen vor mir. In der schönen alten Stadt Belluno verbummelte ich einen nicht gebrauchten Reservetag, denn mein Treffpunkt mit Karin am Markusplatz war terminlich fest verabredet. Bevor man die fruchtbare Ebene an der Piave erreicht, sollten laut Wanderführer noch die Berge des Nevegal überquert werden. Das ist eine weite, bis über 1700 m hohe Almenlandschaft, die mich etwas ans Riesengebirge erinnerte. Immerhin ergab sich damit noch einmal ein Tagesanstieg von 1600 Höhenmetern. Die Lichter der Ebene, die ich beim Zelten von dort oben sah, schienen dem Sternenhimmel darüber Konkurrenz machen zu wollen.
Die restlichen 130 km bis Venedig waren nicht so belastend, wie ich sie erwartet hatte. Reife Weintrauben, Feigen und anderes Obst am Wegesrand boten willkommene Abwechslung.
Mit nur einer kleinen Blase, ohne mich irgendwo verlaufen zu haben und voller schöner Eindrücke endete meine Wanderung nach 31 Tagen.