März 2002 Klaus Wahl
Kathmandu – Lukla
Himalaya, Heimat des Schnees, Heimat der Sherpas, Traum unzähliger Bergsteiger und Wanderer. Die Anfänge des Bergsteigens reichen 100 Jahre zurück. Mummery, Mallory, Buhl und Messner sind nur einige herausragende Bergsteigerlegenden. Seit gut 30 Jahren ist der Himalaya auch für Wanderer zugänglich. Nepal ist der Ausgangspunkt schlechthin. Und wenn man wie ich 40 oder 50 Bücher über den Himalaya gelesen hat, dann wird das Verlangen immer größer, einmal den höchsten Bergen der Erde so nah wie möglich zu sein. Da möchte man auch einmal auf Fünftausender oder gar Sechstausender steigen. Zahlreiche Veranstalter bieten organisierte Trekkingreisen und Bergbesteigungen an. Man kann ganz individuell gehen oder man kann die Hilfe einer in Nepal ansässigen Agentur annehmen. Wir haben letzteres über unseren nepalesischen Freund Sonam Lama gemacht. Unser Ziel war der Weg zum Mount Everest, die Besteigung oder sagen wir besser die Wanderung auf einige Fünftausender und die Besteigung des fast 6200 Meter hohen Island Peak. Für diesen war eine extra Besteigungsgebühr fällig.
Ausgangspunkt aller Touren in den Himalaya Nepals ist Kathmandu, innerhalb von 4 Jahrzehnten von 20.000 auf fast 600.000 Einwohner angewachsen. Armut und bescheidener Wohlstand existieren auf engstem Raum nebeneinander. Das Touristenviertel Thamel beherbergt unzählige Geschäfte mit nützlichen und weniger nützlichen Angeboten.
Nepal ist eigentlich hinduistisch. Trotzdem spielen in den Reiseführern buddhistische Bauwerke eine sehr große Rolle. Bevor wir in die Berge aufbrechen, besuchen wir einige Heiligtümer des Buddhismus und Hinduismus: Botnath, Swayambunath, Kloster Pashupathinath.
Um in die Berge zu kommen, kann man 8 Stunden mit dem Bus fahren und noch 5 Tage laufen. Man kann auch 40 Minuten mit dem Flugzeug fliegen. Dies wird im Allgemeinen als Risiko bezeichnet: Flug nach Sicht, schlechtes Wetter, ein Gebirgsflugplatz, der fliegerisches Können verlangt. Vielleicht sollte man doch lieber die Gebetsmühle etwas drehen. Bei schönem Wetter ist der Flug ein Erlebnis. Sogar der Mount Everest erhebt sich über den Sechs- und Siebentausendern. Ein heller Strich inmitten der Hügel ist der Flugplatz von Lukla. Hoffentlich kann der Pilot gut zielen.
Eine Schar Träger drängelt sich am Flugplatzausgang auf der Suche nach Arbeitgebern, denn das ist man, wenn man Träger braucht. Wir verlassen uns ganz auf die Organisation von Sonam. Ergebnis: 3 Träger (einer mit Hochlagerausrüstung für Island Peak), Jangbu der Klettersherpa und Sonam unser Führer. Damit sind wir 10 Personen. Die Träger laufen von nun an ihr eigenes Tempo. Mal sind sie vor uns, mal hinter uns. Jeder trägt über 30 Kilo. Das ist nicht viel, bis an die 100 Kilo wiegen manche Lasten. Getragen werden muss alles, was in den abgelegenen Tälern und Siedlungen gebraucht wird. Kartoffeln, Reis, Mehl, Eier, Tomaten, Konserven, Baumaterial, aber auch Cola, Mineralwasser, Bier und Whisky. Das eigentliche Gepäck der Touristen ist nur ein Teil von all dem. Sicher hat aber das meiste andere auch irgendwie mit dem Tourismus zu tun.
Lukla – Namche Bazar
Von 2800 Metern steigen wir auf 2400 hinunter. In Phakding ist unser erstes Quartier. Wir bekommen einen Vorgeschmack bezüglich Essen und Hygiene von dem, was uns in den nächsten Tagen erwartet. Und bezüglich der Menschen. Viele von ihnen leben von den Touristen, manche gut, manche weniger gut. Auch hier herrscht harte Konkurrenz. Je weiter man ins Gebirge hineinkommt, desto weniger Lodges gibt es.
Entlang des Dudh Koshi, des Milchflusses, wandern wir Richtung Namche Bazar. 800 Höhenmeter müssen überwunden werden. Hinter der Hillary Bridge geht es steil bergauf. Fast 2 Stunden, unermüdlich. Wir erreichen den Hauptort des Khumbu am Nachmittag. Militärposten kontrollieren das Gepäck einiger Einheimischer. Unsere Lodge soll für zwei Tage Quartier bieten. Auch hier kann man alles kaufen, was noch an Ausrüstung benötigt wird oder Souvenirs beim Rückweg.
In einem Hochgebirge wie dem Himalaya soll man nicht über 400, 500 Meter pro Tag nach oben steigen. Da wir schon auf 3400 Meter sind, legen wir einen Ruhetag ein. Die Hänge oberhalb von Namche sind geeignet für gemütliche Spaziergänge. Wir drehen die Gebetsmühlen am Weg, schaden kann es ja nicht. Auf 3800 Metern erblicken wir einen der schönsten Berge der Erde, die Ama Dablam, Mutter Schatzkästchen. Wir gehen hinunter nach Khumjung. Auf einem Hügel steht das Everest-View Hotel, 3800 Meter hoch, Sauerstoffmasken in den Zimmern. Namche Bazar ist wieder fast erreicht.
Das nächste Ziel heißt Tengboche. Ein einzigartiger Panoramaweg hoch über dem Tal. Und wenn man Glück hat, erblickt man die Spitze des Mount Everest über der gewaltigen Mauer des fast 8000ers Nuptse. Und gleich daneben der vierthöchste Berg der Erde, der Lhotse. Wir werden ihnen noch viel näher kommen. Das Wandern ist angenehm, aber die Mühen des Tages liegen noch vor uns.
Namche Bazar – Dingboche
Wieder geht es hinunter zum Fluss, um anschließend 600 Höhenmeter nach Tengboche in 3800 Metern Höhe aufzusteigen. Das Kloster heben wir uns für den Rückweg auf. Für manche ist hier der Endpunkt ihrer Tour erreicht. Über Schnee, Eis und Matsch versuchen wir hinunterzukommen zur Lodge von Deboche, zur Ama Dablam Garden Lodge, idyllisch unter Wacholderbäumen gelegen. Die Lodges sind in letzter Zeit insofern modernisiert worden, dass es anstatt von Massenlagern nun mehr oder weniger große Zweibetträume gibt, oft nur durch eine Sperrholzwand vom Nachbarraum abgetrennt. Gegenüber einem Zelt doch recht komfortabel.
Wir kommen der Ama Dablam immer näher. Langsam verändert der Berg seine markante Gestalt, wirkt aber nicht weniger imposant. Der niedrigere Taboche auf der anderen Seite des Tales ist aber eine gewaltige Konkurrenz. Wir erreichen Dingboche, über 4300 Meter hoch. Auch hier wollen wir zwei Nächte bleiben.
Hinter der Lodge erheben sich unbedeutende Hügel, ideal für Akklimatisationstouren. Wir wollen einfach nach oben steigen. Ein Gipfel ist nicht unser Ziel. Stetig geht es bergauf, so dass wir immer weiter an Höhe gewinnen. Der Höhenmesser zeigt bereits 5000 Meter und weiter oben scheint doch so etwas wie ein Gipfel zu sein. Jeder sucht sich einen Weg über Schnee und große Steine. Tatsächlich steht auf 5100 Metern ein Steinmann. Wir sind auf dem Nangkar Tshang, einem Vorgipfel des Pokhalde, auf unserem ersten 5000er. Wir genießen ein unbeschreibliches Panorama: Nuptse, Lhotse, Island Peak, Cho Polu, Makalu, Amphu Labtsa, Ama Dablam, Kangtega, Kusum Kanguru, Thamserku, Taboche, Cholatse. Da wir Zeit haben, beeilen wir uns nicht mit dem Hinunterkommen. Es gibt nicht viele relativ leicht erreichbare Stellen mit solch einer Aussicht. Aber irgendwann müssen wir doch wieder hinunter.
Dingboche – Lobuche – Kala Pattar
Unser nächstes Ziel heißt Lobuche. Wieder genießen wir das Panorama. Vor uns der 6000er Lobuche East. Gegen Gebühr ebenfalls im Rahmen von Trekkingtouren zu besteigen. Alpine Erfahrungen sind aber absolut notwendig. Er war anfangs mein Ziel. Sonam hatte dann für den Island Peak plädiert, wohl auch wegen der anderen. In der Lodge von Dughla machen wir Mittag. Mit gemischten Gefühlen blicken wir zu dem gleich bei der Lodge beginnenden Aufstieg. Recht langsam bewegen sich ein paar Leute hinauf. Wie immer haben wir aber Zeit. Schön langsam, Schritt für Schritt, gelangen wir zur Gedenkstätte/Bestattungsstätte auf 4800 Metern. Auf einmal wird man mit dem Tod konfrontiert, mit den Toten vom Mount Everest. Bilder tauchen in der Erinnerung auf, auch an Scott Fisher. Sechs Jahre ist es jetzt her, als am Everest Bergführer und ihre Kunden in Sturm und Kälte ums Leben kamen. Der Roman von Jon Krakauer hat ausführlich die dramatischen Ereignisse geschildert. Trotz der Gefahren und Unglücke sind es nicht weniger Bergsteiger geworden, die den Everest zum Ziel haben. Vielleicht verstehe ich das sogar, erst recht nach dem morgigen Tag.
Doch vorerst müssen wir unsere Lodge erreichen. Vor uns liegt jetzt das lange Tal des Khumbu-Gletschers. Eine 20-Zentimeter-Schneeschicht ist für uns von Vorteil, denn man wird von dem ansonsten ständig herumwehenden feinen Staub verschont. Außerdem ist die Landschaft bei Schnee und blauem Himmel einfach schöner. Yak-Karawanen kommen uns entgegen. Es ist traumhaft.
Zu den zwei einfachen Lodges der Hirtensiedlung Lobuche ist noch eine dritte, komfortable hinzugekommen. Eco-Lodge nennt sie sich. Solarzellen auf dem Dach sind wohl das „Eco“. Aber es ist sehr angenehm hier, schöne geräumige Doppelzimmer mit Teppichfußboden, fließendes Wasser, ordentliche Toilette und das alles in fast 5000 Meter Höhe. Man muss halt auch 15 Dollar für die Nacht bezahlen, das ist enorm viel. Sebastian hat auf einmal sehr starke Kopfschmerzen, die Höhe fordert ihren Tribut. Aspirin helfen ihm und nach 2 Stunden geht es wieder. Am Nachmittag gehe ich mit Heike und Hans auf den Moränenwall des Khumbu Gletschers. Dieser beginnt im Tal des Schweigens, dort, wo man zum Gipfel des Mount Everest gelangt. Der Gletscher ist bedeckt mit Geröll und Steinen. Nur an wenigen Stellen schauen Spalten hervor, dafür aber ganz gewaltige. Fast 3000 Meter erhebt sich über uns der Nuptse. Die Eispyramide des Pumori ist ein fantastisches Bildmotiv im Hintergrund.
Den Abend verbringen wir wieder mit Herumsitzen um den mit Yakmist beheizten Ofen, mit Kartenspielen und natürlich auch mit Essen und Teetrinken. Vier Uhr wollen wir aufstehen. Der Kala Pattar steht auf dem Programm. Sonam wollte uns wecken. Schließlich wecke ich ihn viertel fünf. Wir frühstücken nicht, trinken nur Tee, so dass wir noch in der Dunkelheit losgehen können. Fast eben zieht sich der Weg dahin, endlos. Stein- und Schotterhügel werden um- und übergangen. Mittlerweile ist es hell. Vor uns wird der Pumori immer gewaltiger. Da sehen wir schon die Hütten von Gorak Shep, zwei Lodges. Da wir noch nichts gegessen haben, machen wir hier erst einmal Frühstück. Sonam packt Yakkäse aus und ich muss sagen, er schmeckt gar nicht mal so schlecht. So gestärkt sollte der Weg zum Kala Pattar kein Problem für uns sein. Gleich bei den Hütten beginnt der Aufstieg, ein ganz normaler, nicht schwieriger Bergpfad. Anfangs laufen wir, na ja fast, wie bei uns in den Alpen. Aber schon bald merken wir, dass wir uns immer höher über 5000 Meter bewegen. Die Luft wird ganz einfach knapp, wie man so schön sagt. Die Strecken zwischen den Pausen werden immer kürzer. Manch einer soll auch schon vor dem Gipfel aufgegeben haben. Das tun wir nicht und so klettern wir noch über ein paar größere Steinblöcke bis zum 5600 Meter hohen Gipfel. Natürlich haben wir den Everest schon längst im Blickfeld gehabt, aber erst ganz oben können wir ihn vollends bewundern, bis hin zum Südsattel. Dieser Anblick soll zu den schönsten und begehrtesten in den Bergen der Welt zählen. Der Lhotse schaut unscheinbar hervor und der fast Achttausender Nuptse stiehlt den anderen fast die Schau. Doch direkt vor und über uns, 2000 Meter höher ragt der Pumori-Gipfel in den tiefblauen Himmel. Wir sind an einem Ort, von dem man sich nur schwer losreißen kann. Diese gewaltigen Berge, die bekannten, aber auch die unbekannten, die Gebetsfahnen, glückliche Menschen. Sicher ist das einer der schönsten Augenblicke im Leben. Jeder von uns hat sich einen Platz gesucht, schaut und geht seinen Gedanken nach. Es braucht Zeit, das alles zu verarbeiten.
Wir müssen wieder hinunter. Jetzt ist es ein angenehmes Laufen. In Gorak Shep gibt es wieder Tee. Unerbärmlich brennt die Sonne vom Himmel. Drüben am Nuptse fegt eine riesige Lawine Schneemassen herunter. Wir beobachten das Schauspiel aus sicherer Entfernung. Nach 10 Stunden sind wir wieder in der Lodge von Lobuche. Hans muss Antibiotika nehmen. Ihn plagt schon seit Tagen eine Erkältung. Der Kala Pattar und die trockene Luft haben ihm sehr zugesetzt.
Mit Sebastian, Jule und Sonam gehe ich vor dem Abendessen noch 30 Minuten zur Silberpyramide, Hotel und Station für Höhenforschungen. Das Hotel ist auch nur eine normale gut ausgestattete Lodge und zudem mit 30 Dollar sehr teuer.
In unsrer Lodge schmeckt das Abendessen wieder vorzüglich. Es ist immer wieder erstaunlich, wie unter diesen schwierigen Bedingungen eine Auswahl an Essen existiert, welche selbst manche Alpenvereinshütte nicht hat. Obwohl ich der Meinung bin, dass sowohl in den Hütten der Alpen als auch hier im Himalaya manches nicht sein müsste. Wozu muss man auf 5000 Meter Mineralwasser, Limo, Bier, Whisky und vieles andere mehr schleppen? Wir trinken seit Tagen Tee.
Ich habe ganz gut geschlafen. Vor uns liegt ein bequemer Tag und so dauern die Beschäftigungen um das Frühstück herum ein wenig länger als sonst. Wieder scheint die Sonne. In Dughla trinken wir Tee. Dingboche ist vielleicht noch zwei Stunden entfernt. Ein starker Südwind macht das Gehen unangenehm. Wolken ziehen auf und ich befürchte schlechtes Wetter. In der Himalayan Tiger Lodge sind wir auch am Abend die einzigen Gäste. Zwischen Mittag- und Abendessen schlagen wir die Zeit tot: sich waschen, Kleidung waschen, Karten spielen, Lesen. Die Sonne schaut hin und wieder zwischen den Wolken hervor. Im Aufenthaltsraum wird am Abend nur wenig geheizt. Nach dem Abendessen, ich kann wieder zwischen verschiedenen Kartoffel- und Reisgerichten wählen, und ein wenig lesen gehen wir zeitig schlafen.
Dingboche – Chukkhung
Weiter geht es nach Chukkhung. Vorbei an Steinmauern, die hier in 4300 Meter Höhe um die Kartoffelfelder herum aufgeschichtet sind, und einigen Häusern führt der Weg sanft bergauf. Rechts die Ama Dablam, fast 2500 Meter höher, links der Lhotse mit seiner gewaltigen Südwand, 4000 Meter höher. Immer wieder schweift der Blick zu den Gipfeln dieser Himalayariesen. Sie wirken nah und sind doch so weit entfernt. Urplötzlich liegen nach 3 Stunden die ersten Häuser von Chukkhung vor uns. Es sind nur ein paar wenige, darunter die Amadablam-Peaceland-Lodge. Hier ist unser Quartier. Im Hof, bei strahlendem Sonnenschein, mit Ausblick auf einen der schönsten Berge der Erde genießen wir in aller Ruhe ein schmackhaftes Mittagessen. Danach bereiten wir unsere Ausrüstung für die Besteigung des Island Peak vor. Steigeisen anpassen, verschiedene Reepschnüre und Karabiner zusammenstellen und so weiter. Alles geht langsam hier in 4700 Metern Höhe. Eine Akklimatisationswanderung führt uns auf ein 5050 Meter hohes Gipfelchen unterhalb des Chukkhung, der mit über 5800 Metern der höchste ohne Genehmigung erreichbare Gipfel im Khumbu ist. Die Nuptse-Südwand (ca. 7900 m) und der Lhotse (ca. 8500 m) sind unsere Nachbarn. Im Osten erblicken wir den Island Peak und den Cho Polu. Dichte Wolken legen sich über das Tal und wir gehen wieder zurück zur Lodge. Eine gespenstische, bedrohende Stimmung breitet sich aus. Immer wieder wird ein Stück Berg freigegeben, von der Sonne erleuchtet, um kurz darauf wieder zu verschwinden. Auf einmal ragt aus den Wolken nur noch der Gipfel des Lhotse in blauen Himmel, ein Naturschauspiel sondergleichen.
Island Peak
Am Abend füllt sich die Lodge. Eine Trekkinggruppe aus Leipzig hat draußen Zelte aufgeschlagen und ist vom Island Peak zurückgekehrt. Niemand hat den Gipfel erreicht weil ganz einfach die Verhältnisse zu kompliziert waren. Eine „gute“ Motivation für uns, denn die Leute waren keine Anfänger.
Der Abend in der Lodge wird recht gemütlich. Zwei Frauen, deren tibetische Abstammung nicht zu verleugnen ist, und ein Mann sind am Abend in Küche und Gastraum voll gefordert. Später singt die ältere der Frauen Gebetsformeln aus einem Buch, dann wird die große Gebetsmühle unaufhörlich geschwenkt. So gelangen an diesem Abend zahlreiche Gebete in den Himmel. Ein Sherpa kommt vom Basislager des Island Peak und berichtet vom Sturz eines deutschen Bergsteigers. Nicht immer können die Gebete helfen.
Nun steigen wir zum Basislager. Es ist ein schöner Weg, aber er will kein Ende nehmen. In 5000 Meter Höhe durchqueren wir so etwas wie eine Hochwüste. Ständiger Wind von vorne bläst uns fast staubartigen Sand überall hin. Unsere Sherpas mit den Zelten und der Ausrüstung sind schon vor uns losgegangen und so stehen wir auf einmal vor den Zelten in 5000 Meter Höhe. Wind und Sand treiben uns ins Küchenzelt. Da gibt es immer was zu Trinken und schließlich auch ein üppiges Mittagessen, bestehend aus Bratkartoffeln, Gemüse und Corned Beef. Dazu noch Obstdessert. Mit Jule und Sebastian, beide haben mit mir vor, den Island Peak zu besteigen, mache ich noch eine kleine Tour. Wir gehen Richtung Talende, sehen vor uns den Cho Polu, 1999 auch von dem Schmalkaldener Günter Jung erstbestiegen. Die fast 7200 Meter hohe Nordwestwand des Baruntse steht als gewaltige Mauer aus Eis und Schnee vor uns. Wir steigen bis auf etwa 5400 Meter durch wegloses Gelände. Das Wetter könnte besser sein. Zu ersten mal sehen wir Himalaya-Schneehühner. Im Lager treffen wir den Leipziger Bergsteiger und Cho-Oyu-Expeditionsleiter Dr. Olaf Rieck. Er berichtet von dem Unfall des Deutschen am Berg, der angeblich bewusstlos im Zelt liegt. Wahrscheinlich ist ein Abtransport aus 5500 Meter erforderlich. Drei Begleiter von Olaf sind schon oben, ebenfalls 2 Sherpas. Ich denke, dass wir nicht helfen können. Halb sechs gibt es schon Abendessen, wieder sehr reichlich. Aber es ist gut, wenn einem das Essen schmeckt. Dann hat die Akklimatisation ganz gut geklappt. Allerdings schlafe ich in der Nacht nur mit Hilfe einer Tablette ein. Ob das so richtig war?
Halb zwei in der Nacht stehen wir auf. Der Wind hat sich gelegt. Sternenhimmel verspricht schönes Wetter. Zum Frühstück esse ich zwei Eier und Brot. Halb drei beginnt der Aufstieg, 1100 Höhenmeter Richtung Gipfel. Es ist gar nicht so kalt, vielleicht minus 5 Grad. Gleich vom Basislager geht es steil bergauf. So gewinnen wir schnell an Höhenmetern. Jule sagt, dass sie wahrscheinlich nicht mit weitergehen wird. Bis zum zweiten Hochlager gehen wir aber noch gemeinsam. Dort bleiben in der Nähe von 3 Zelten Jule und Sebastian zurück. Mit Sonam und Jangbu gehe ich nun alleine. Das Gelände wird schwieriger, leichte Kletterei, gefrorener Schnee. Sind wir überhaupt auf dem richtigen Weg? Aber ich verlasse mich auf Sonam, er war schon mehrere Male auf dem Island Peak. Auf etwa 5700 Meter muss ich erst einmal eine Rast einlegen. Langsam kommt die Morgendämmerung, leider auch Wolken. Irgendwann setzt bei mir leichter Höhenschwindel ein. Ist für mich das Ende schon erreicht, sollen wir umkehren? Sonam hält das für besser, zumal es mit dem Wetter auch nicht zum Besten steht. Ich denke an Heinrich, der verletzt irgendwo weiter unten im Zelt liegt, an die Gespräche von vorgestern Abend in der Lodge über die schlechten Verhältnisse, schaue zum Gipfel, der jetzt frei vor uns liegt. Die Gipfeleiswand ist sehr ausgeapert, am Grat ist Schnee abgebrochen. Die Sonne hat in den letzten Wochen ganze Arbeit geleistet. Meine Motivation ist nicht so wie sie sein sollte für so einen Berg. Olaf Rieck hatte gestern noch gesagt, dass der Aufstieg vom Basecamp sehr anstrengend ist und er deshalb immer ein Hochlager einrichtet.
Wir lassen die Rucksäcke liegen und steigen noch auf den felsigen, knapp 5900 Meter hohen Vorgipfel. Nach etwa 20 Minuten gehen wir wieder hinunter. Ich fühle mich wieder gut. Da ist das obere Hochlager mit drei Zelten. Noch ein paar Meter weiter oben sehen wir Reste eines Lagerplatzes, auf einigen Steinen Blutspuren. Im Lager schauen zwei Männer mit grauen Gesichtern aus ihrem Zelt. Die letzte Nacht war sicher nicht erholsam für sie. Von einer Bergsteigerin erfahren wir, dass im Zelt nebenan der verletzte Heinrich liegt, so gut wie nicht ansprechbar. Wir fragen, ob wir helfen können. Heinrich müsste sofort abtransportiert werden. Olaf ist schon abgestiegen, um in Chukkhung nach einem Hubschrauber zu telefonieren. Wir hoffen, dass die Rettungsaktion glücklich ausgeht und steigen weiter bergab. Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Wie hätte ich helfen können? Es ist das erste Mal, dass ich aus nächster Nähe mit einem schweren Bergunfall konfrontiert werde. Ich weiß, dass es am Island Peak hin und wieder zu Zwischenfällen kommt, Stürze und akute Höhenkrankheit. Es ist gut, dass wir umgekehrt sind.
Jule und Sebastian, schon länger wieder im Basislager, gehen davon aus, dass wir auf dem Gipfel waren. Angeblich würde das lustige Pfeifen von Jangbu darauf schließen lassen. Ich erzähle das Wichtigste der vergangenen Stunden. Wenn wir nun viel Zeit hätten, könnten wir am folgenden Tag noch einen Versuch wagen. Dieser ist aber leider nicht eingeplant, schade. So trinken wir wieder reichlich Tee und heiße Orange und bereiten uns auf den Rückmarsch vor. Aus dem Tal kommt ein Hubschrauber geflogen. Wir wissen, dass er wegen Heinrich im Hochlager kommt. Mehrmals versucht der Hubschrauber einen Anflug auf das Lager in 5600 Meter Höhe, sehr hoch für ihn. Was genau der Grund ist, warum er nach 10 Minuten wieder abdreht, können wir nur ahnen. Eine Landung ist da oben nicht möglich, eine Rettung aus der Luft geht anscheinend auch nicht.
Noch am frühen Vormittag richten sich unsere Schritte wieder nach Chukkhung. Unterwegs treffen wir auf Olaf Rieck. Man will Heinrich auf einer kleinen Aluminiumleiter ins Basecamp transportieren. Von dort aus soll der Hubschrauber dann die Bergung vornehmen. Wir wünschen Olaf viel Glück bei dieser Aktion. Im Nachhinein sage ich mir, dass wir vielleicht doch etwas hätten helfen können. Der Transport eines schweren Mannes über 600 Höhenmeter ist eine Schinderei. Und so viele Leute sind die anderen auch nicht gewesen.
Schon Mittag sind wir wieder in der Lodge zurück. Der Island Peak zeigt sich von seiner Sonnenseite. Ein wenig Wehmut kommt bei mir auf. Der Hubschrauber vom Morgen kommt wieder aus dem Tal herauf, fliegt weiter zum Island Peak. Nach 15 Minuten fliegt er schon wieder zurück, Ziel: Krankenhaus Kathmandu. Die Rettung hat anscheinend geklappt.
Am Nachmittag kommen Heike und Hans von einer Tour „ins Blaue“ zurück. Ganz allein waren sie in einsamen Tälern unterwegs. Und sie haben sich ein wenig Sorgen gemacht. Die Hubschrauberaktivitäten hätten ja auch einem von uns gelten können.
In der Lodge ist es an diesem Nachmittag sehr ruhig. Bis zum Abend kommt niemand mehr aus dem Tal herauf. Somit gehen wir wieder zeitig schlafen. Morgen liegt ein langer Tag vor uns, bis Deboche (3700 m) soll es gehen.
Auf der einen Seite ist es schön, wenn es zurück geht. Auf der anderen Seite kehrt man einer faszinierenden Berglandschaft den Rücken, was sicher auch ein wenig traurig stimmt. Vorbei an Dingboche machen wir einen Abstecher zu Kloster Pangboche, dem ältesten im Khumbu. In die Welt eines alten Klosters einzutauchen, ist immer ein besonderes Erlebnis. Leider sind die meisten Mönche nicht anwesend, aber ein älterer Geistlicher erklärt über Sonam so einiges, stellt sich auch für ein Foto zur Verfügung. In der „Donation-Box“ lassen wir einige Rupien verschwinden. Der Erhalt der buddhistischen Religion ist in dieser Gegend nicht immer selbstverständlich.
Die gemütliche Lodge in Deboche wird wieder unser Nachtquartier. Am Abend gehen wir noch kurz zum alten Nonnenkloster. Eine kleine Ansammlung halb verfallener Hütten und ein kleiner Klosterraum, in dem zwei jüngere Nonnen sitzen und Gebete aus heiligen Schriften im monotonen Sprechgesang vor sich hin murmeln. Manchmal komme ich mir als Eindringling in eine Welt vor, in der ich nichts zu suchen habe. Diese Klöster sind schließlich kein Museum. Bis heute bin ich mir nicht sicher darüber, ob Touristen an diesen Orten gern gesehen werden oder man sich einfach dem nicht Abzuwendenden fügt. Das Geld, welches viele geben, ist ja auch nicht zu verachten.
Zeitig verlassen wir Deboche und sind deshalb schon früh am Kloster Tengboche, dem berühmtesten der Region. In den 80ern war es abgebrannt und wurde bis 1992 mit ausländischer Hilfe wieder aufgebaut. Ein größeres Kloster mit vielen Mönchen und Schülern, aber auch mit dem Flair des Tourismus umgeben wie sonst kein anderes. Die Sicht von hier auf Everest, Nuptse, Lhotse und Ama Dablam ist allerdings einzigartig. Für viele Trekkingtouristen ist hier auf 3850 Meter Höhe der Höhepunkt ihrer Nepaltour. Und wenn man Wetterglück hat, dann ist sicher der Anblick auf das Dach der Welt ein beeindruckendes Erlebnis. Auch wir schauen zurück und sind glücklich, diesen Bergen sehr nahe gekommen zu sein. Hans geht es nicht gut und er bleibt während unserer Klosterbesichtigung auf einer Bank liegen. Nach zwei Stunden steigen wir 600 Höhenmeter hinab ins Tal des Imja Kola. Wir tauchen ein in den Himalayawald aus Fichten, Kiefern, Zedern und Sträuchern. Steil geht es anschließend 400 Höhenmeter wieder hinauf. Immer wieder kommen uns Jokyok-Karawanen, Träger mit Wahnsinnslasten, Trekker und Bergsteiger entgegen. Die Frühjahrssaison erweckt immer mehr Leben im Khumbu.
Nach der Mittagsrast scheint der relativ ebene Weg kein Ende zu nehmen. Der aufgewirbelte feine Staub der Vorausgehenden und Entgegenkommenden ist sehr lästig. Ich bin froh, als die Dächer Namche Bazars auftauchen. Wir übernachten wieder in der Himalayan Lodge, wie zu Beginn der Tour. Am Nachmittag schauen wir uns ein wenig im Ort um. Das Angebot der unzähligen Händler an Sportbekleidung, Bergausrüstung, Schnitzereien, religiösen Dingen, an Nützlichem und weniger Nützlichem ist groß. Ich erstehe zwei Gemälde hiesiger Künstler. Über deren Wert bin ich mir auch heute noch nicht im klaren. Jedenfalls haben sie mir gefallen und gehandelt habe ich auch. Man wird wahrscheinlich nie erfahren, ob etwas zu teuer war oder man ein Schnäppchen gemacht hat. Mit Preisen zu Hause kann man sowieso nicht vergleichen.
Nun steht der lange Weg nach Thame auf dem Programm. In 4000 Meter Höhe steht dort ein altes Kloster. Wir begehen nun den Weg, der direkt nach Tibet führt. Mani-Mauern und Mani-Steine sind unübersehbar. Das Tal, welches wir durchwandern, ist durch und durch buddhistisch geprägt. Davon zeugen auch die Stupas und die unzähligen Gebetsfahnen, die sich an den Brücken über die Flüsse befinden. Hin und wieder begegnen uns Mönche. Nach 3 Stunden erreichen wir das Dorf Thamo. Hans geht es immer noch nicht gut. Zu seiner Erkältung kommen jetzt noch Magenkrämpfe und Durchfall. Die Lodge, in der wir rasten, wird zu unserem Nachtquartier. Mit Hans geht es einfach nicht mehr weiter und wir wollen ihn an diesem Tag auch nicht alleine lassen. Jule, Sebastian und ich machen einen Ausflug talaufwärts. Wir lassen die Landschaft auf uns wirken.
Am anderen Tag brechen wir drei in aller Frühe mit Sonam nach Thame auf. Der kleine Ort am Talschluss wirkt winzig unterhalb der 6500 Meter hohen Berge. Hier steht das Geburtshaus von Tenzing Norgay, der mit Hillary 1953 den Mount Everest erstbestiegen hat. Wir gehen weiter hinauf zum Kloster, sehen auf einmal den Achttausender Cho Oyu auftauchen. Nicht allzu weit ist die Grenze nach China, nach Tibet. Und noch heute kommen hier Flüchtlinge von dort nach Nepal. Der Weg zum Kloster ist von landschaftlicher Einmaligkeit, vielleicht einer der schönsten unsrer ganzen Tour. Hoch oben in den Felsen thronen das Kloster und die Nebengebäude. Einige Mönchsschüler scheinen den religiösen Ernst ihres Daseins noch nicht begriffen zu haben. Szenen wie auf einem unserer Schulhöfe zu Hause. Ich denke aber, auch sie werden die Lehren Buddhas noch verstehen lernen. Leider ist das Kloster auch ein wenig Baustelle. Es wird saniert. Gerne würden wir trotzdem noch etwas verweilen, aber Sonam drängt zum Abstieg. Im Ort, der eigentlich wie viele im Khumbu nur eine lockere Ansammlung einiger Häuser ist, gibt es eine Pause mit Tee. Wieder sitzen wir in der Sonne und blicken hinauf zum ewigen Eis der Himalayariesen. Unvorstellbare Eisflanken, doppelt so hoch wie die Eiger-Nordwand und wahrscheinlich noch nie durchstiegen. Aber wir müssen uns losreißen von diesem Anblick, müssen wieder zurück nach Thamo und nach Namche. In der Lodge nehmen wir unser restliches Gepäck und gehen weiter. Heike und Hans sind mit Jangbu schon losgegangen. Wir beschließen, in Namche nicht noch eine Nacht zu bleiben, sondern gleich abzusteigen nach Monjo. Der Gegenwind hat leichtes Spiel mit dem vom Gehen aufgewirbelten Staub. Endlich haben wir Namche erreicht. In der Lodge warten Heike, Hans und Jangbu auf uns. In aller Ruhe können wir nun Mittag essen, denn an diesem Tag brauchen wir nicht mehr viel länger als 3 Stunden zu laufen, und das fast nur bergab.
Steil geht es hinunter in das Tal des Dudh Koshi, den wir nun zum zweiten mal über die berühmte Hillary-Bridge überqueren. Und wir merken immer mehr, dass auf einer der Haupttrekkingrouten im Himalaya nunmehr die Saison beginnt. Bei unserem Aufbruch vor 17 Tagen sah das noch anders aus. Eine richtige Entscheidung, zeitiger loszugehen.
Monjo, Kailash-Lodge: diesen Berg sieht man von hier aus natürlich nicht. Die Lodge ist gut, es gibt sogar eine Dusche. Na ja, Hans hat es gewagt. Am Abend sitzen alle wie üblich vor dem Ofen. Es wird nicht viel geredet. Mit einem Himalayakenner aus Österreich kann ich mich ganz gut unterhalten. Er ist alleine mit einer einheimischen Frau unterwegs und erinnert mich ein bisschen an den Bergsteiger Kurt Diemberger.
Die letzte Etappe nach Lukla ist nun auch nicht mehr schwierig. In der Lodge von Sonams Schwester, in Phakding gibt es Mittagessen, ausgiebig, lange. Lukla ist nicht mehr weit und dort gibt es für uns nicht mehr viel zu sehen. Trotzdem haben wir noch einen ganzen Tag Zeit bis zum Flug nach Kathmandu. Diesmal ist das Hotel Mera unser Domizil. Dort nutze ich die Dusche, die man aber keinesfalls mit denen zu Hause vergleichen kann. Pingelig darf man eben nicht sein. Abends im Gastraum werden wir noch von einer schwerbewaffneten Militärsteife besucht. In der Region sind aufständische Maoisten unterwegs.
Am nächsten Tag erleben wir den Basar von Lukla. Händler kommen aus dem Tal herauf, andere aus den Bergen herab. Ein großer Einkaufstag, denn einen Supermarkt gibt es nicht. Kartoffeln, Reis, Gewürze, Gemüse, Obst, Eier, Käse, Butter, Fleisch, Kleidung, vieles wechselt den Besitzer. Wir schauen landenden und startenden Flugzeugen zu. Ein wirklich abenteuerlicher Flugplatz.
Dann wandern wir durch die Gegend um Lukla, besuchen eine Schule, ein Kloster, laufen zwischen Feldern und einfachen Behausungen hindurch. Zwar ein schöner Tag zum Ausklingen, aber zumindest für mich auch ein verlorener Tag am Island Peak. Im Hotel müssen wir noch eine Nacht überstehen, hoffen auf günstiges Flugwetter am nächsten Tag.
An diesem scheint auch schon früh die Sonne. Auf dem Flugplatz durchwühlt ein „Beamter“ oberflächlich unser Gepäck – Pflichtkontrolle. Dann sitzen wir vier Stunden und warten. In Kathmandu ist Nebel, kein Flugzeug kann starten. Die Geduld der Fluggäste wir auf die Probe gestellt. Manche haben hier schon tagelang gewartet. Wir jedoch können hoffen und nach dem Warten endlich in eine Twin-Otter einsteigen.